Es wird in diesem Artikel allgemein um die Begriffe Hochsensibilität und Trauma gehen. Beide sind in den letzten Jahren zu regelrechten Mode- oder Schlagwörtern aufgestiegen.
Das Thema oder den Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Trauma zu erforschen, beschäftigt mich schon seit einigen Jahren, ja gärte regelrecht in mir.
Im Speziellen möchte ich in diesem Artikel über meine Erfahrungen und Erkenntnisse meiner über 7-jährigen Auseinandersetzung mit meiner eigenen Hochsensibilität sowie im Kontakt mit anderen hochsensiblen Personen berichten.
Dies vor dem Hintergrund und der etwas provokanten Fragestellung, ob es so etwas wie eine anlagebedingte Hochsensibilität überhaupt gibt – und falls ja, was diese von einer erworbenen, erhöhten Sensibilität und Reizempfindlichkeit, die von frühen Bindungsverletzungen herkommen kann, unterscheidet.
Im Zuge dieser kritischen und differenzierten Auseinandersetzung mit den Begriffen Hochsensibilität und Trauma werde ich auch auf einige persönliche Erlebnisse im Umgang mit hochsensiblen Menschen zurückgreifen, die bei mir unter anderem der Auslöser dafür waren, dass ich im Laufe der letzten Jahre eine neue Sicht auf den ganzen Hype um den Begriff Hochsensibilität gewonnen habe.
Es wird also auch ein persönlicher Artikel werden, soviel sei vorab schon gesagt.
Also fangen wir ja.
Vom Inhalt her umfasst der Artikel folgende Bereiche:
Meine Geschichte als Hochsensibler
Beginnen möchte ich mit einem kurzen Abriss meiner eigenen Geschichte im Zusammenhang mit Hochsensibilität, die vor rund 7 Jahren begann.
Im Sommer 2014 erlebte ich eine tiefe Lebens- und Sinnkrise durch die Trennung von einer Frau. Ich stand mit nichts da. Damals war ich arbeitslos, hatte keine Perspektive oder Vision, wie es in meinem Leben weitergehen sollte. Ich zog mein ganzes Wohlergehen aus dieser Beziehung, was im Nachgang betrachtet typische Anzeichen einer Co-Abhängigkeit waren.
Es war Sommer, draußen schien die Sonne und ich saß drinnen und blies Trübsal. Mehr oder weniger aus Langeweile, fing ich an zu googeln und stieß dabei auf den Begriff der Hochsensibilität, den ich vor einigen Jahren schon einmal gehört hatte, aber keine nähere Beachtung schenkte.
Trotz der trüben Stimmung in mir verschlang ich die Artikel im Netz über Hochsensibilität. Ich fand mich in den Beschreibungen wieder und spürte eine große Resonanz. Beim Lesen eines Standard-Werks* über Hochsensibilität erlebte ich ein AHA-Erlebnis nach dem anderen. Ja, ich spürte ein neues Selbstverständnis und verstand endlich, was in den letzten Jahren mit mir los war.
Man kann also sagen, erst durch diese Krise bekam ich ein tieferes Verständnis für meine feinfühlige und tiefgründige Natur – und somit für mich selbst. Ein weiteres Mal fungierte eine Lebenskrise als Katalysator und Initialzündung für einen neuen Abschnitt in meinem Leben.
Ich recherchierte weiter und fand im Herbst 2014 einen HSP-Gesprächskreis in meiner Nähe. So kam ich das erste Mal in Kontakt mit anderen Hochsensiblen, zum Teil auch mit hochsensiblen Autoren, die darüber schon Bücher veröffentlicht hatten.
Durch dieses neu gewonnene Selbstverständnis und letztlich auch Selbstvertrauen habe ich mich im Frühjahr 2015 dazu entschlossen, mich selbstständig zu machen und einen Blog über Hochsensibilität, persönlicher Entwicklung und ganzheitlicher Männlichkeit zu eröffnen. Der Startschuss für simplyfeelit.de.
Der Begriff Hochsensibilität kurz erklärt
Wohl die meisten, aber trotzdem nicht alle Leser werden mit dem Begriff Hochsensibilität etwas anfangen können. Auch wenn er in den letzten Jahren verstärkt in den Medien präsent war.
Deshalb möchte ich hier eine kurze Erläuterung geben, was man unter einer hochsensiblen Veranlagung versteht, wie sie sich im Alltag bemerkbar macht und was die Forschung zu den Ursachen einer erhöhten Reizbarkeit und Wahrnehmung sagt. Leider kommt es nämlich hierbei oft zu Missverständnissen, Fehldeutungen und auch Überhöhungen bei den Betroffenen selbst.
Nach Stand der Forschungen geht man heute davon aus, dass ca. 15-20% einer Population ein ausgeprägteres und empfindsameres autonomes, also nicht willentlich gesteuertes Nervensystem haben, als der Rest einer Spezies.
Die meisten Autoren gehen hierbei von einer genetischen, sprich anlagebedingten erhöhten Reizempfindlichkeit aus. Zum Beispiel die Autorin Ulrike Hensel. Sie schreibt: „Hochsensible haben anlagebedingt ein leichter erregbares Nervensystem als die Mehrheit der Menschen, sind deutlich empfindlicher gegenüber äußeren und inneren Reizen und deshalb leichter überstimuliert.“
Wichtig ist hierbei zu verstehen, dass es eine erhöhte Reizempfindlichkeit oder ständige Übererregung aufgrund einer genetischen Veranlagung aber auch aufgrund früher traumatischer Bindungsverletzungen aus Kindheitstagen geben kann. Was die genaue Ursache oder Entstehung eines leicht erregbaren Nervensystems angeht, darüber streiten sich diverse „Experten und Gelehrte“ seit Jahren.
Die einen sagen, dass es schon seit Jahrtausenden in jeder Menschheitsepoche die erwähnten 15-20% Feinfühligeren gab, deren Sinnes- und Wahrnehmungskanäle geöffneter und ausgeprägter waren als beim Rest (denke dabei zum Beispiel an Schamanen, Priester, Orakel & Heiler in alten Kulturen). Hochsensibilität gibt es demnach schon immer und ist nichts, was man zu pathologisieren braucht.
Andere Experten, insbesondere körperorientierte Therapeuten, sagen hingegen, dass eine erhöhte Reizempfindlichkeit ein klares Anzeichen einer früher Bindungsverletzung sei. Sie beobachten bei Ihren Klienten oftmals die gleichen Symptome wie sie hochsensible Personen immer wieder beschreiben: eine deutlich erhöhte Empfindsamkeit und Wachsamkeit gegenüber äußeren Reizen und Menschen.
Früh traumatisierte Menschen haben irgendwann in ihrer Entwicklung den Kontakt zu einem anderen Menschen als Gefahr erlebt und daraus als Überlebensstrategie eine erhöhte Sinnes-Wahrnehmung entwickelt, um so ständig die Umgebung auf mögliche Gefahren oder die Annäherung durch eine Person zu scannen.
Diese erhöhte Reizempfindlichkeit aufgrund einer Traumatisierung erfüllt in gewisser Weise die Funktion eines Frühwarnsystems bei dem Betroffenen:
„Traumatisierungen in der Kindheit oder im Laufe des Erwachsenenlebens (Übergriff, Missbrauch, Vergewaltigung, Überfall, Einbruch, Unfall, Naturkatastrophe) können zu extremer Sensibilität führen; hat jemand die Welt als unsicher und andere Menschen als Bedrohung erlebt, befindet er sich in der Folge in einer mehr oder weniger permanenten Anspannung und Habachtstellung, um sich zu schützen und erneutes Unheil abzuwehren“, schreibt die bereits erwähnte hochsensible Autorin Ulrike Hensel* dazu.
Bei alledem sollte man außerdem beachten, dass pränatale, also vorgeburtliche traumatische Erfahrungen der Eltern, auch eine mögliche Ursache für eine sogenannte „angeborene“ oder anlagebedingte Hochsensibilität sein können. Ebenso gewisse unverarbeitete Traumata, die genetisch oder seelisch von einer Generation zur nächsten weitergeben wurden ( zum Beispiel von einem kriegsversehrten Großvater).
Wie kann man nun zwischen einer angeborenen und im Laufe des Lebens erworbenen Hochsensibilität unterscheiden? Gibt es Anhaltspunkte, anhand derer man diese Unterscheidung treffen kann?
Ja, es gibt Unterscheidungsmerkmale.
Die Autorin Ulrike Hensel schreibt dazu (1):
„Ein Unterschied zwischen erworbener hoher Empfindlichkeit und anlagebedingter Hochsensibilität ist wohl darin zu sehen, dass bei einer erworbenen hohen Empfindlichkeit die typischen Vorzüge fehlen, die üblicherweise mit einer Hochsensibilität einhergehen, wie zum Beispiel die generelle nuancenreichere Wahrnehmung, das übergreifende Denken, die Fülle und Tiefe des Empfindens. Zudem erstreckt sich die hohe Wachsamkeit, Alarmbereitschaft und Reaktivität bei einer Traumaspätfolge häufig nur auf einzelne Lebensbereiche und ist oftmals auf bestimmte Auslöserreize beschränkt.“
Damit ist gemeint, dass bei einer im Laufe des Lebens erworbenen Sensibilität ein äußerer Auslöser (Trigger) vorliegen muss, damit die Alarmbereitschaft, Angst oder Verkrampfung ausgelöst wird.
Zum Beispiel bei einem Schocktrauma durch einen Hundebiss in Kindheitstagen. Noch Jahre später sitzt dieser Schrecken in den Knochen, und ein heran laufender Hund kann heute noch Symptome wie Herzrasen auslösen.
Nach dieser Definition ist eine erworbene Hochsensibilität oder erhöhte Reaktivität also situationsbedingt. Eine anlagebedingte Hochsensibilität dagegen dauerhaft vorhanden.
Im Großen und Ganzen folge ich als Autor und Coach bis heute, nach über 7 Jahren Auseinandersetzung mit Hochsensibilität und hochsensiblen Menschen, weiterhin dieser Einschätzung.
Doch wie schon in einer Folge meines Podcasts aus dem letzten November thematisiert, in der es um die Frage ging, ob du hochsensibel und narzisstisch veranlagt sein kannst, habe ich in den letzten Jahren sowohl zum Teil bei mir selbst als auch im Kontakt mit einigen Hochsensiblen oftmals etwas ganz anderes erlebt: eine schnelle Kränkbarkeit und eine nahezu vollkommene Kritikunfähigkeit, gepaart mit vielen Streits, Rechthaberei und Kontaktabbrüchen – wohlgemerkt jeweils im Kontakt mit anderen Hochsensiblen.
Also alles klassische Verhaltensmerkmale einer narzisstischen Verletzung, die ja letztlich als Grundursache ebenfalls auf frühe Bindungsverletzungen zurückzuführen ist.
Die aufgezählten Verhaltenszüge waren den betroffenen Hochsensiblen meist nicht bewusst. Wie auch mir nicht zu Beginn der Erforschung meiner Hochsensibilität, bis ich anfing, mich näher damit auseinanderzusetzen.
Im Gegenteil: Darauf angesprochen, reagierten hochsensible Menschen aus meinem damaligen Umfeld oftmals mit Abwehr, Projektion, Wut: Ich würde mir das einbilden oder von mir auf andere schließen. Frei nach dem Motto: Ich bin eben hochsensibel, basta!
Doch umso mehr ich zu Hochsensibilität und Trauma recherchierte und die Zusammenhänge verstand, umso mehr drängte sich mir die Frage auf:
Kann es sein, dass einige Hochsensible ein nicht integriertes Entwicklungs- und Bindungstrauma als blinden Fleck in sich tragen und diesen Fleck mit dem Label „Hochsensibilität“ überdecken?
Genau um die Erforschung dieser Frage wird es in diesem Artikel gehen.
Wir schauen uns an, was ein unreguliertes, traumatisiertes Nervensystem von einem regulierten, gesunden Nervensystem unterscheidet – und was das alles mit Hochsensibilität zu tun hat!
Wie eine Traumatisierung auf unser Nervensystem wirkt
„Eine Traumatisierung bedeutet im Grunde, dass der Körper nicht mehr aus einer Schreckreaktion herausfindet, die ein bestimmtes Ereignis ausgelöst hat, sondern darin verharrt“, beschreibt die Therapeutin Dami Charf* kurz und knapp ein typisches Charakteristikum eines Traumas.
Anders formuliert ist ein Trauma ein äußeres Ereignis, das über uns hereingebrochen ist und mit welchem wir in diesem Moment physiologisch wie psychisch nicht umgehen konnten. Unser System war damit völlig überlastet und hatte in diesem Moment keinerlei Möglichkeiten der Verarbeitung.
Nun hat sich die Natur für solch ein schreckliches Ereignis eine clevere Überlebensstrategie im Laufe der Evolution überlegt. Man könnte sagen: ein Notfallschalter! Ein Abschaltmechanismus, der unser Nervensystem in solch einem lebensbedrohlichen Moment abschaltet.
Dieser Notfallschalter funktioniert so:
Solange unser Stammhirn noch eine Chance sieht, zu kämpfen oder zu fliehen, zum Beispiel wenn ein Bär vor uns steht, wird eine dieser beiden Alarmreaktionen ausgelöst.
Werden wir jedoch derart überwältigt, dass Todesangst entsteht, indem zum Beispiel der Bär plötzlich auf uns zugerannt kommt, erstarren wir. Zunächst fallen wir in eine körperliche Erstarrung, unter der aber noch enorm viel Energie gehalten wird. Hält die Überwältigung weiter an, zum Beispiel wenn Bär direkt über uns steht, wird der letzte Überlebensreflex der Natur in uns aktiviert: der sogenannte Totstellreflex. Uns verlässt jede Spannung und Energie im Körper.
In dieser Todesangst kollabiert quasi unser gesamtes System und wir stellen uns tot! Ein Jahrtausende Jahre alter Überlebensinstinkt, um von einem Jäger als Beutetier nicht gefressen zu werden. Es ist die älteste zur Verfügung stehende Reaktion auf eine akute Lebensgefahr, die in unserem Stammhirn gespeichert ist, dem evolutionär ältesten Teil unseres Gehirns.
Übertragen auf uns Menschen und unsere Entwicklung bedeutet dies, wenn ein Kleinkind oder Säugling von seiner engsten Bezugsperson – die meist die Mutter ist – in seinem Bindungsbedürfnis nicht gesehen oder extrem vernachlässigt wird, was schon bei dem immer noch weit verbreiteten Ablegen des schreienden und hilflosen Kindes im Nebenzimmer passieren kann, erfährt es in diesem Moment Todesangst! Und die eben beschriebenen Überlebensmechanismen werden in seinem autonomen Nervensystem aktiviert.
Für das Kind hat diese Reaktion schwerwiegende Folgen. Geschieht das nicht nur einmal, sondern regelmäßig und oft, greift ein weiterer Überlebensmechanismus, um den unerträglichen Schmerz, der einer Vernichtung in diesem Moment gleich kommt, nicht spüren zu müssen: Dissoziation.
Dissoziation bedeutet, in einer Situation, die akut unser physisches wie emotionales Überleben gefährdet, dass sich dann der Geist vom Körper abkoppelt. Bei einem Säugling ist das schon der Fall, wenn die Mutter nicht da ist, wenn es schreit, Hunger hat oder Wärme benötigt.
Das Kind empfindet dann in solch einer Situation keine Todesangst mehr und es hat nicht das Gefühl, dass ihm das alles gerade widerfährt. Nur durch diese Abspaltung vom aktuellem schrecklichen Erleben und dem Körper mit seinen Gefühlen, kann ein Säugling oder Kleinkind wahrscheinlich diese existenziellen, ja lebensbedrohliche Situation überstehen – ansonsten würde es höchstwahrscheinlich regelrecht daran zugrunde gehen.
So können wir sagen, dass dieser uralte Überlebensmechanismus uns damals in einer hilflosen, überfordernden Situation das physische Überleben gesichert hat. Doch zahlen wir dafür in unserer weiteren Entwicklung und allen voran als erwachsener Mensch einen hohen Preis.
Da unsere Psyche nichts vergisst und sich vor allem die Situationen und Reaktionen speichert, die uns zumindest einmal das Überleben gesichert haben, wird unsere Psyche in Zukunft diese dissoziative Reaktion immer wieder wählen – und zwar auch in Situationen, die in der Realität nicht lebensbedrohlich sind, aber mit ähnlichen Emotionen, Ängsten und Körperempfindungen wie damals verbunden sind, als wir ein Säugling oder Kleinkind waren.
Daraus entsteht dann eine traumatische Spätfolge. Das physiologische System hat keine Meldung bekommen, dass das Ereignis von damals vorüber ist und eine Normalisierung der Stressreaktion stattfinden kann. Das autonome Nervensystem befindet sich quasi dauerhaft im Überlebens- und Kampfmodus.
Die Folge daraus ist, dass das Lebensgefühl des Betroffenen einer ständigen Achterbahnfahrt gleicht. Sein Nervensystem befindet sich nur noch höchst selten im Gleichgewicht, sondern schwankt ständig zwischen einem Zustand der Übererregung oder der Untererregung.
Genau hier, bei diesem ständigen Wechsel zwischen Überforderung und Unterforderung unseres Nervensystems haben wir eine Verbindung zu der erhöhten Wahrnehmung und Reaktivität eines hochsensiblen Nervensystems – erstmal egal, ob wir von einer anlagebedingten oder im Laufe der Entwicklung erworbenen Veranlagung sprechen.
Schauen wir uns zur besseren Veranschaulichung ein paar typische Anzeichen eines übererregten Nervensystems an:
Im Gegensatz dazu Anzeichen eines untererregten Nervensystems:
Durch den Achterbahneffekt zwischen diesen beiden Modi im Nervensystem gibt es nur selten Momente, die von reiner Lebensfreude, Ruhe, Frieden und Entspannung geprägt sind. Wie du dir denken kannst, ist dies auf Dauer ungeheuer schwer zu ertragen und äußerst anstrengend.
Das Stresstoleranzfenster
So kommen wir jetzt zu einem sehr wichtigen Begriff in der Traumatherapie:
das Stresstoleranzfenster. Auch Window of Tolerance genannt.
Stell dir einen Fensterrahmen vor. Dieser ist nach oben und unten begrenzt. Dieses Fenster bestimmt je nach Breite und Enge, wie viele der täglich auf dich einströmenden Reize du noch als angenehm und handelbar empfindest.
Menschen mit einem gesunden Nervensystem bewegen sich, was die tägliche Erregung und Untererregung angeht, meist in einem breiten Toleranzfenster. Es gibt kaum Ausschläge, die über den oberen oder unteren Rahmen gehen, was immer mit extrem viel Stress verbunden ist. Die Breite dieses Fensterrahmens wird in den ersten fünf Kindheitsjahren festgelegt, je nachdem wie gut unsere engsten Bezugspersonen auf uns und unsere Bedürfnisse eingehen konnten. Menschen, deren eben beschriebenes Toleranzfenster groß ist, wirken sehr ausgeglichen auf uns, sie scheint kaum etwas aufzuregen.
Dagegen reagieren Menschen mit einem schmalen Toleranzfenster oft für die Umwelt sehr übertrieben oder sehr untertrieben auf Reize – also genau das, was viele Hochsensible bezüglich einer ständigen oder sogar täglichen Reizüberflutung beschreiben. „Sowohl die zu hohe als auch die zu niedrige Sensibilität sind Folge früher Verletzungen“, schreibt die Traumatherapeutin Dami Charf in ihrem Buch „Auch Alte Wunden können heilen“*.
Dieser ständige Wechsel zwischen Überforderung und Unterforderung und den damit einhergehenden Symptomen habe ich als hochsensibler Mensch in den vergangenen Jahren selbst immer wieder erlebt. Und so eben auch bei vielen Hochsensiblen in den letzten Jahren beobachten dürfen, mit denen ich näheren Kontakt hatte.
Damit kommen wir nach dieser ersten Bestandsaufnahme zu der zentralen Frage, wie denn ein reguliertes, gesundes, sich in Balance befindliches Nervensystem aussehen könnte? Und damit auch zu der Frage, wie so etwas wie eine erlöste, geheilte oder zentrierte Form von Hochsensibilität aussehen kann!
Selbstregulation als Ausdruck eines gesunden Nervensystems
Im Zusammenhang mit einem sich in gesunder Schwingung innerhalb des eigenen Toleranzfensters befindlichen Nervensystems, kommen wir nun zu einem weiteren wichtigen Begriff der Traumaheilung: Selbstregulation.
Selbstregulation bedeutet, dass unser autonomes Nervensystem die Aufgabe hat, unser Erregungsniveau zu steuern und zu modulieren in unseren tagtäglichen Handlungen und Aktionen.
Autonom deshalb, da es nicht direkt durch unseren Willen oder unsere Gedanken beeinflusst werden kann. Das autonome Nervensystem hat zwei nervliche Zweige, mit denen es den Wechsel zwischen Erregung und Entspannung steuert: Der Sympathikus ist für Erregung und der Parasympathikus ist für Entspannung zuständig.
Eine angemessene Sympathikus-Reaktion sorgt für:
Eine angemessene Parasympathikus-Reaktion sorgt für:
So, und nun kommt etwas ganz wichtiges:
Ein gesundes, ausbalanciertes Nervensystem zeichnet sich nicht durch Verharren oder extremen Ausschlägen in die eine oder andere Richtung aus – sondern durch Flexibilität!
Es ist fähig in beide Richtungen, also zwischen Erregung und Entspannung, ständig hin und her zu schwingen und je nach Anforderung zu wechseln. So wie es die jeweiligen täglichen Aufgaben und Anforderungen verlangen. Während eines stressigen Tages hält sich die Schwingung beispielsweise im oberen Bereich. An einem anderen Tag, den du sonntags auf der Couch verbringst, orientiert sich die Schwingung eher nach unten. Jeweils ohne den Fensterrahmen zu verlassen.
Diese Schwingungsbreite ist, wie bereits erwähnt, bei jedem Menschen anders ausgeprägt. Wie stark diese Schwingungsbreite ausgebildet ist, hängt nicht nur von der Entwicklung in der frühen Kindheit ab, sondern auch wie die eigene Geburt verlief. Wurdest du als Kleinkind in deinen Bedürfnissen gesehen und befriedigt, bildet sich eine größere Schwingungsbreite und somit auch Regulationsfähigkeit deines Nervensystems aus.
Hat das Kind jedoch starke Vernachlässigungen seiner Bedürfnisse erlebt, ja gar Todesängste, hat der spätere Erwachsene eine geringere Schwingungsbreite innerhalb seines Stresstoleranzfensters und somit auch eine geringe Toleranz gegenüber Eindrücken und Reizen von außen.
Menschen mit einem weit ausgebildeten Toleranzfenster können nicht nur mehr Reize und Stress aushalten, sondern auch mehr Gefühle.
Das bezieht sich nicht nur auf sogenannte unangenehme Gefühle, wie Trauer, Wut, Einsamkeit. Sondern Menschen mit einem breiten Window of Tolerance können auch mehr Glücksgefühle empfinden. Weil auch Gefühle wie Glück oder Freude eine Erregung verursachen, wenn auch eine positive.
Von Natur aus fühlen wir uns am wohlsten, wenn wir uns im Rahmen unseres Stresstoleranzfensters bewegen. Instinktiv streben wir dies auch immer wieder an. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns immer wieder so selbst regulieren müssen, dass wir innerhalb unseres Fensters bleiben.
Die ideale Voraussetzung dafür wäre, wenn wir uns die ganze Zeit selbst spüren könnten und im Kontakt mit unserem Körper und unseren Gefühlen wären. Dann wären wir in der Lage ein inneres Ungleichgewicht sofort auszubalancieren und würden quasi nicht aus dem Fensterrahmen fallen. Dieser Idealzustand ist aber leider bei den wenigsten vorhanden.
Die Gemeinsamkeit von Hochsensiblen und traumatisierten Menschen
Wenn du bis hierher gut aufgepasst hast, hast du den ersten gemeinsamen Nenner zwischen traumatisierten Menschen und Hochsensiblen vielleicht schon erkannt.
Die ständige Regulation der eigenen Erregungszustände kann ein Mensch, der sich als Kleinkind aufgrund traumatischer Ereignisse von seinem Körper und seinen Gefühlen abgespalten hat, nicht leisten. Weil er ein eher enges und somit begrenztes Stresstoleranzfenster aufgrund dieser Erlebnisse entwickelt hat.
Menschen mit solch frühen und tiefen Verletzungen haben nur wenige Möglichkeiten, glücklich zu sein. Angenehme Gefühle wie Glück bedeuten nämlich eine ähnlich hohe Erregung wie Stress. Gleichzeitig werden Menschen mit einem engen Toleranzfenster wahrscheinlich Situationen, die eine hohe Erregung mit sich bringen, eher meiden. Also auch Situationen oder Menschen, die Glück, Zufriedenheit oder Freude mit sich bringen.
Genauso ist es diesen Menschen auf der anderen Seite aber auch nicht möglich, sich tief zu entspannen, einem anderen Menschen zu vertrauen, sich fallen zu lassen, da auch dies ihr Nervensystem überfordert, sie aus dem Rahmen fallen, nur auf der anderen Seite: der Unterforderung.
„So kann man sagen, dass ein frühes Entwicklungs- oder Bindungstrauma der hindernde Faktor für die Ausbildung eines schwingungsfähigen, flexiblen und anpassungsfähigen Nervensystems ist“, drückt es die bereits erwähnte Traumatherapeutin Dami Charf so treffend aus (2).
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Genau dieses nicht schwingende, anpassungsfähige und somit oftmals überreizte Nervensystem liest man als typisches Charakteristikum in fast jedem Buch über Hochsensibilität – und habe ich nicht zuletzt ja bei mir selbst in den letzten Jahren so erlebt.
Nach diesem Grundlagenverständnis über die Wesenszüge eines regulieren und unregulierten Nervensystems und dem Zusammenhang mit Hochsensibilität, kommen wir am Ende dieses Artikels zu der spannenden Frage, wie denn so etwas wie eine geheilte oder integrierte Hochsensibilität vor dem Hintergrund dieser frühen Verletzungen und deren Folgeerscheinungen aussehen könnte. Vorher machen wir aber noch einen kleinen Abstecher zu der Problematik, den Begriff Hochsensibilität als Ausrede zu benutzen (um nicht zu sagen: zu missbrauchen).
Hochsensibilität als Ausrede und Etikett
Die bekannte hochsensible Autorin Anne Heintze antwortete in einem Interview auf die Frage, ob ein Mensch hochsensibel geboren wird oder ob diese extreme Ausprägung auch mit der Zeit entstehen kann:
„Es gibt Menschen, deren Hochsensibilität sich erst im Laufe des Lebens entwickelt hat. Je mehr stressbelastete Situationen oder traumatische Erlebnisse sie haben, umso feiner werden ihre Sinneskanäle. Ein zutiefst nützlicher Schutzmechanismus entsteht, dessen Auswirkungen ähnlich wie bei der angeborenen Hochsensibilität aussieht. Nach meiner Erfahrung gibt es wahrscheinlich genauso viel erworbene wie angeborene Hochsensibilität.“
Auch Anne Heintze bestätigt den Unterschied zwischen einer „natürlichen“ Hochsensibilität gegenüber einer im Laufe der Entwicklung erworbenen erhöhten Sensibilität und Reaktivität als Schutzmechanismus, so wie ich es eben auch darstellte.
Sie unterscheidet eine gelöste von einer ungelösten Hochsensibilität. Gelöste Hochsensible definiert Anne Heintze so: „Sie haben gelernt, die Möglichkeiten hinter ihrem Anderssein zu erkennen und diese für sich zu nutzen, tief in sich zu blicken und ihre Probleme dank ihrer tiefen, fundierten Einsicht zu lösen, aber auch neue Perspektiven für sich und andere zu entwickeln.“
Eine ungelöste Hochsensibilität führt Sie vor allem darauf zurück, dass die natürliche Begabung in der Kindheit nicht anerkannt und gefördert wurde, somit Hochsensible oftmals bei anderen Menschen aneckten. Ja in vielen Fällen sogar versucht wurde, diese Anlage abzuerziehen, damit man „sich nicht mehr so anstellt“ und „normal“ wird. Das stimmt zunächst einmal. Das habe ich und sicher viele andere HSP als Kind so erlebt.
Anne Heintze schreibt weiter: „Leider aber ecken viele Hochsensible und Hochsensitive schon in der frühen Kindheit bei ihren Mitmenschen an, sie erfahren nicht die richtige Behandlung und werden dadurch tatsächlich depressiv und verängstigt. Durch schlechte Kindheitserfahrungen oder traumatische Ereignisse entstehen Angst und depressive Verstimmungen.“
Versuchen wir das im größeren Zusammenhang zu sehen, eben in Bezug auf frühkindliche Verletzungen und dem daraus resultierenden unregulierten Nervensystem, ergibt sich heute für mich ein anderes, differenziertes Bild, was das Phänomen Hochsensibilität angeht, als es Autoren wie Anne Heintze beschreiben.
Die beschriebenen Potenziale, besonderen Fähigkeiten und tiefen Einblicke, die hochsensiblen Menschen zugeschrieben werden, bleiben bei gelösten Hochsensiblen sicher weiter bestehen und möchte ich auch hier in keinster Weise in Abrede stellen. Im Gegenteil, es sind ja zum Teil auch meine Potenziale und besonderen Talente.
Auf was ich hinaus will und mittlerweile auch kritisch sehe, ist etwas anderes. Nämlich den Begriff Hochsensibilität als Label oder Ausrede dafür zu benutzen, um sich nicht ernsthaft und ehrlich mit sich selbst und im Zuge dessen mit erlebten frühen (Bindungs)Traumatas auseinanderzusetzen.
Leider ist das genau meine Beobachtung aus den letzten Jahren im Kontakt mit einigen Hochsensiblen, die ich im Laufe der Zeit näher kennenlernte.
Zunächst einmal ist das verständlich. Mir ging es ja ähnlich. Es war wie eine Befreiung, als ich vor rund 7 Jahren meine Hochsensibilität verstand und annahm: „Yuhuu, ich bin nicht verkehrt, sondern nur reizempfindlicher, ich bin nicht alleine damit und kann lernen damit umzugehen.“
Vielleicht erfolgt das Verständnis und der Umgang mit der eigenen Hochsensibilität auch vier verschiedenen Entwicklungsphasen, wie es die Bloggerin Jasmin Schindler in diesem Artikel beschreibt: "Gegen Ende der Vertiefungsphase schien sich der Kreis geschlossen zu haben. Gefühlt hatte ich alles gelesen, die Geschichten wiederholten sich. Immer öfter war ich ernüchtert. Davon, dass das halbe Internet inzwischen zugepflastert schien mit Tests, ob man nun hochsensibel ist oder nicht. Ich haderte auch mit so manchen (gefühlten 300-Wörter-)Artikeln auf halbseriösen Plattformen, nur um auch einen Artikel zum Thema geschrieben zu haben."
Laut Jasmin ist das ein Merkmal der 3. Phase, der Ernüchterung. In der Beschreibung dieser Phase finde ich mich heute sehr wieder. Meine Auseinandersetzung und das Interesse an dem Thema Hochsensibilität tritt seit einiger Zeit immer mehr in den Hintergrund.
Dazu beigetragen hat sicherlich auch, dass ich meinen intensiven Weg der Selbsterkenntnis in den letzten Jahren kontinuierlich fortgesetzt habe, mir meine alten Verletzungen anschaute, den Schmerz fühlte und mehr als einmal durchs Feuer ging.
Und siehe da: Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass sich auch meine erhöhte Reizempfindlichkeit veränderte. Ich konnte länger in meinem Stresstoleranzfenster bleiben, ja ich würde sogar behaupten, dieses wurde durch die intensive Auseinandersetzung mit meiner Geschichte breiter und eben schwingungsfähiger.
So habe ich einen ganz neuen Blick auf so etwas wie eine angeborene Hochsensiblität gewonnen. Wie erwähnt, je nachdem wie weit man in Sachen Trauma-Entstehung zurückgehen will, könnte man eine angeborene Hochsensibilität auch als Folge einer vorgeburtlichen Traumatisierung im Mutterleib oder in einer vorherigen Generation ansehen.
Darum geht es mir gar nicht so sehr. Mir geht es hier nicht um eine nachträgliche Pathologisierung des Begriffs Hochsensibilität!
Doch ebenso wenig geht es mir um eine künstliche Erhöhung und Stilisierung des Begriffs, was jedoch aus meiner Wahrnehmung heraus nach wie vor weit verbreitet ist bei einigen (hochsensiblen) Autoren und Experten.
Ein reguliertes Nervensystem als Ausdruck einer integrierten Hochsensibilität
Um was es mir geht - wie in all meiner Arbeit - ist eine radikale Ehrlichkeit und Eigenverantwortung. Alles Eigenschaften, die in der Regel Menschen mit einer hochsensiblen Veranlagung zugesprochen werden.
Jedoch war es in der Vergangenheit oftmals so, dass ich alles andere als reflektierte, selbstkritische, ehrliche und eigenverantwortliche Hochsensible kennengelernt hatte.
Das genaue Gegenteil war oftmals der Fall:
Unter uns gesprochen: Diese Begegnungen der letzten Jahren mit einigen selbsternannten Hochsensiblen war eine der Gründe, warum ich mich aus diesen Kreisen und auch von manchen Freundschaften verabschiedet habe.
Umso mehr mein Prozess der Selbsterkenntnis fortschritt, wozu ganz sicher auch das Verständnis über meine eigenen Wunden gehörte, umso mehr fielen mir die erwähnten, eher unschönen Verhaltenszügen bei "Hochsensiblen" in meinem Umfeld auf.
Wenn wir das in diesem Artikel zugrunde gelegte Verständnis über ein reguliertes Nervensystem und dem damit verbundenen Stresstoleranzfenster zur Hand nehmen, ergeben die eben skizzierten negativen Verhaltensweisen bei selbsternannten Hochsensiblen durchaus Sinn.
Wie du jetzt weißt, hat ein unreguliertes Nervensystem, das ständig von hohen, über den Fensterrahmen hinaus gehenden Ausschlägen geprägt ist, ein Problem mit Grenzen. Es spürt die eigenen Begrenzungen nicht und ist somit in so etwas wie einer ständigen Habacht- und Alarmstellung: Welche Gefahr kommt als Nächstes von außen! Egal, ob durch Reize oder die Äußerungen und Taten von Menschen.
Drei Arten von Hochsensibilität
In diesem Zusammenhang bin ich auf einen interessanten Artikel der Trainerin Sandra Quedenbaum gestoßen, in dem sie drei Arten von Hochsensibilität unterscheidet:
Hochsensible mit guter Selbstregulation
Diese Gruppe von Hochsensiblen zeichnet aus, dass sie neugierig und wissbegierig sind, was ihre eigene hochsensible Veranlagung angeht. Eine typischer Charakterzug von hochsensiblen Menschen übrigens. Sie sind stets bestrebt mehr über sich und ihre Potenziale zu erfahren, sich stetig weiterzuentwickeln. Generell zeichnet sie ein guter Umgag mit ihren hochsensiblen Eigenarten aus, sie gehen optimistisch und zufrieden durchs Leben.
Hochsensible mit ausbaufähiger Selbstregulation
Diese Gruppe hat mit einigen Problemen und Herausforderungen zu kämpfen, was ihre Hochsensibilität angeht. Meist aber nicht in dem Ausmaß, dass sie darunter leiden. Hochsensible mit einem guten Fundament an Selbstregulation leben meist in stabilen Partnerschaften, besitzen ein soziales Umfeld, das sie trägt und unterstützt.
Ein entscheidendes Erkennungsmerkmal für diese Art von Hochsensibilität ist, dass die Betroffenen nicht mehr Konflikte als andere, normalsensible Menschen haben. Mit den entsprechenden Wissen, Übungen und Tipps aus Büchern und im Austausch mit anderen HSP, können sie die durch die Hochsensibilität hervorgerufenen Herausforderungen meist gut meistern und ein erfülltes Leben führen.
Hochsensible mit Trauma oder ausschließlich Traumatisierte
Hier kommt nun der Begriff des Leidens ins Spiel. Grundsätzlich kann man sagen, dass bei jeglicher Störung oder Verletzung das subjektive Leidensempfinden ein wesentlicher Hinweisgeber ist, dass man hier etwas tun sollte.
Genau das ist bei dieser Art von Hochsensibilität anzutreffen. Die Betroffenen leiden stark unter den besonderen Anforderungen ihrer Hochsensibilität (Reizempfindlichkeit, schnelle Kränkbarkeit im sozialen Kontakt und so weiter). Eine frühkindliche, unentdeckte Traumatisierung ist hier sehr wahrscheinlich. Bei einigen ist es so, dass sie ihre Traumaspätfolgen, zu der zum Beispiel eine hohe emotionale Reaktivität gehört, fälschlicherweise als Eigenschaften ihrer hochsensiblen Anlage interpretiert haben. Manche haben diese Einschätzung auch von anderen Hochsensiblen oder Coaches irreführend erhalten.
Menschen in diesem Bereich leiden unter zwischenmenschlichen Konflikten im beruflichen und privaten Bereich. Oftmals führen sie Beziehungen, die ihnen nicht gut tun, in denen sie ausgenutzt und missbraucht werden (was ich ganz oft so in meinen Coachings erlebe).
Oder die Betroffenen haben generell große Schwierigkeiten Vertrauen zu jemand anderem aufzubauen und können dadurch keine tiefen Beziehungen einzugehen. Panikattacken, Depressionen, Zwänge, permanente Angstzustände oder dissoziative Zustände sind häufige Begleitsymptome. Sie entstehen jedoch nicht durch eine „hochsensible Veranlagung“ – sondern durch ein frühes (Bindungs-)Trauma!
Hochsensibilität und Trauma: Eine Unterscheidung ist extrem wichtig!
Sandra Quedenbaum führt dann weiter in ihrem Artikel aus, dass Sie es als für immens wichtig erachtet, als Coach, Therapeut oder auch Autor, eine Hochsensibilität von einem Trauma unterscheiden zu können.
Ich teile diese Einschätzung zu 100%!
Genau das ist auch der rote Faden bzw. Anspruch in meiner ganzen Tätigkeit als Autor, Blogger, Coach und nicht zuletzt mit diesem Artikel..
Weil ein hochsensibler und ein traumatisierter Mensch jeweils eine andere (therapeutische) Begleitung benötigen. Hier kann Unwissenheit viel Schaden anrichten. Aus der Erfahrung und fachlichen Einschätzung von Sandra Quedenbaum kann es aber durchaus Mischformen geben.
Folgende Übereinstimmungen und Unterschiede hat Sie in ihrer jahrelangen Beobachtung und Umgang mit Hochsensiblen und Traumatisierten gemacht.
Traumatisierte Hochsensible behalten viele Eigenschaften der Hochsensibilität
In Situationen, in denen die Komfortzone verlassen wird, was erstmal nervlichen Stress bedeutet, sind die Reaktionen von Traumatisierten und Hochsensiblen identisch.
Ein großes Unterscheidungsmerkmal ist jedoch, dass hochsensible Menschen, die über eine gute Selbstregulation und Verbindung mit sich selbst verfügen, innerhalb kürzester Zeit, weniger Minuten, wieder ihr Stresstoleranzfenster erreichen. Man könnte sagen: sich schnell wieder beruhigen können. Sie hören und achten auf ihre Körpersignale und handeln entsprechend.
Ganz im Gegensatz zu ausschließlich traumatisierten Menschen. Diese fühlen sich Stress-Situationen vollkommen ausgeliefert (weil, wie weiter oben ausgeführt, der Stress, die Eindrücke, ihr Toleranzfenster quasi sprengt). Sie neigen dann zu cholerischen Wutanfällen (nach oben hin explodiert) oder zu einem depressiven Zusammenbruch, einem Kollaps (nach unten hin implodiert).
Betroffene, die sowohl eine hochsensible Anlage als auch gewisse traumatische Erfahrungen erlebt haben, zeigen meist auch weiterhin ein hohes Maß an Empathie. Meist verbunden mit einem sozialen-, ethischen- und ökologischen Bewusstsein.
In der öffentlichen Wahrnehmung wird im Zusammenhang mit dem Begriff Trauma meist von einem Schocktrauma gesprochen. Nach einem schrecklichen, überfordernden Ereignis wie zum Beispiel nach einem Autounfall oder wenn ein Soldat aus einem Kriegseinsatz zurückkommt.
Wichtig ist zu verstehen, dass wir hier im Zusammenhang und Differenzierung von Hochsensibilität und Trauma von einem Entwicklungstrauma sprechen. Das bedeutet, dass traumatische Ereignisse über einen längeren Zeitraum auf den Betroffenen (das Kind!) eingewirkt haben.
Hochsensibilität und Trauma: Ein Fazit
Aus meiner eigenen Erfahrung und Einschätzung der letzten Jahren, gepaart mit der Aufarbeitung meiner eigenen Geschichte, komme ich heute zu der Feststellung, dass viele Hochsensible, Hochsensible mit einem (verdeckten) Trauma oder sogar ausschließlich Traumatisierte sind.
Des Weiteren komme ich zur der Aussage, dass es Hochsensible gibt, die sich auf typische positiven Eigenschaften wie ein hohes soziales-, ethisches- und ökologisches Bewusstsein und vor allem der erhöhten Empathie gegenüber Normalsensible ausruhen, mitunter sogar als Ausrede oder Schutzschild gegen jede Art von Kritik oder Rückmeldung zu unverarbeiteten Verletzungen benutzen.
Es mangelt aus meiner Sicht oftmals an einer klaren und ehrlichen Differenzierung zwischen einer anlagebedingten erhöhten Sensibilität und deren Potenzialen versus einer erhöhten Reiz-und Empfindsamkeit aufgrund traumatisch erlebter Bindungsverletzungen in der Kindheit.
Sobald sich traumatisierte Hochsensible offen und mutig mit ihrem erlebten Bindungsverletzungen und den daraus resultierenden Folgen auseinandersetzen würden, würde die Fähigkeit zur Selbstregulation zunehmen und die schnelle Reiz und Empfindsamkeit abnehmen, so meine Behauptung und Selbsterfahrung.
Doch leider gibt es noch zu viele HSP da draußen, die unerlöst herumlaufen, unter ihrer Hochsensibilität leiden und alles abwehren, was irgendwie nach Trauma oder alten Verletzungen und den daraus resultierenden Abwehr- und Schutzstrategien riecht (wie einem verdeckten Narzissmus).
Sie versperren sich damit nicht nur den Weg für eine Integration der eigenen Verletzungen und damit zu mehr Freiheit und Lebensfreude. Sondern sie missbrauchen auch den Begriff Hochsensibilität und sind aufgrund ungelöster frühen Verletzungen in ständigen Schattenkämpfen mit anderen aus ihrem oftmals einsamen Elfenbeintürmen verwickelt.
Deshalb auch am Ende dieses Artikels mein Appell an dich:
Sei ehrlich mit dir selbst und habe den Mut, dich deinen Schatten, Schmerzen und unerlösten Themen zu stellen. Das ist sicher nicht der einfache Weg, sondern erstmal unangenehm – aber ganz sicher der, der sich langfristig am meisten lohnt.
Weil am Ende mehr Lebenslust, Potenzialentfaltung und Verbindung zu dir selbst und anderen Menschen wartet. Das kann ich dir aus meiner eigenen Erfahrung vollauf bestätigen!
Die Welt im Wandel wartet darauf, dass du dein geheiltes, hochsensibles Potenzial mit all seinen positiven Eigenschaften einbringst. Doch dazu ist es unabdingbar notwendig, dass du dir deine Schatten, Verletzungen und blinden Flecken mutig anschaust.
Falls du Unterstützung auf den Weg in eine geheilte Hochsensibilität benötigst, allen voran um deine blinden Flecken aus alten Verletzungen zu erkennen, dann kann ich dich auf diesen Weg als einfühlsamer und kompetenter Coach ein Stück weit begleiten.
Buche dazu einfach ein kostenloses Vorgespräch mit mir, in dem wir beide herausfinden, ob es zwischen uns beiden passt und ich dich für eine gewisse Zeit unterstützen kann.
Für heute vielen Dank für deine Aufmerksamkeit.
Quellen
(1) Buch: Ulrike Hensel: Mit viel Feingefühl
(2) Buch: Dami Charf: Auch alte Wunden können heilen
https://www.loesungs-coaching.de/hochsensibilitaet-und-trauma/
https://open-mind-akademie.de/hochsensibilitaet-und-depressionen/
https://www.healthyhabits.de/hochsensibilitaet-phasen/
https://www.emotion.de/de/persoenlichkeit/sensibel-oder-hochsensibel-8129
www.unsplash.com
Titelbild: dmitry-schemelev by unsplash.com
*Werbelink (Amazon)
Vielen Dank, das war ein unfassbar gut recherchierter Artikel, hoch informativ und spannend dazu. Ich werde in meinem Buch daraus zitieren mit Quellenangabe und Link. 🙂
Hallo Stefanie, danke für deinen Kommentar. Ja, mach das gerne mit dem Zitieren. Über was schreibst du ein Buch?
LG Oliver